ROBERT MUSIL – DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN


Robert Musil (1880-1942) wollte traditionelle literarische Darstellungsweisen überwinden und Einsichten in seine Zeit mit modernen Stilmitteln zum Ausdruck zu bringen. Noch unter dem Eindruck der Ursachen und Wirkungen des Ersten Weltkriegs befasst er sich in seinem Romanwerk Der Mann ohne Eigenschaften mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den Zeiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die bis in die Nazizeit ausstrahlen. Veröffentlicht 1930-1943 in drei Bänden und Entwürfen, blieb Musils Schlüsselwerk als monumental angelegte Skizze unvollendet.

Florian Illies fand zu den meteorologischen Eröffnungsätzen heraus, dass der August 1913 eigentlich der kälteste des 20. Jahrhunderts war. Die den ersten Absatz schließende Aussage Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913 wurde von Musil schlicht, einfach und effektvoll erfunden.


Robert Musil (1880-1942) wanted to overcome traditional literary modes of representation and express insights into his time using a modern style. Still under the impression of the causes and effects of the First World War, his novel Der Mann ohne Eigenschaften (The Man Without Qualities) deals with the social changes from the Austro-Hungarian Empire onward, which radiate into the Nazi era. Published in 1930-1943 in three volumes and drafts, Musil’s key work remained unfinished as a large-scale sketch.

German author and publisher Florian Illies found out for the meteorological opening sentences that August 1913 actually was the coldest of the 20th century. The statement It was a beautiful August day of the year 1913 closing the first paragraph was invented by Musil simply and effectively.


Gesamter Text aller Bände und Fragmente auf https://www.projekt-gutenberg.org/musil/mannohne/titlepage.html

Die ersten Passagen des Romanwerks:

Erster Teil

Eine Art Einleitung

1

Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. Die Augen öffnend, würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. Und wenn er sich, das zu können, nur einbilden sollte, schadet es auch nichts. Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromillimeter genau ausdrücken ließe; wogegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist, in der man sich aufhält, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es lenkt von Wichtigerem ab.

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